Brillenschlangen

Christine nimmt seit ihrem 48. Geburtstag wieder Klavierstunde. Wie lange sich Frauen von heute staunenswert ewig jung zu halten vermögen, sehe ich auch an Christines Klavierlehrerin. Es ist dieselbe, die Christine schon unterrichtete, als Christine noch Tinchen gerufen wurde. Nur damals hatte diese Klavierlehrerin schon erste graue Haare. Heute ist sie nicht nur imponierender denn je als Künstlerin und Pädagogin. Sie ist auch zeitlos pechschwarz geworden.

Einziger Indikator, dass auch Christines Piano-Lehrerin älter geworden sei, ist daran zu sehen, dass sie jetzt eine Brille wegen ihrer Kurzsichtigkeit trägt. Die Kurzsichtigkeit von Christines Lehrerin zeigt sich jedoch nur, wenn die Noten auf dem Flügel zu klein würden, manchmal unsichtbar. In solchen Situationen sich entziehender Lesekraft zog Christines Lehrerin den ein klein bisschen verschiebbaren Notenhalter ein klein bisschen wieder zu sich heran. Dann sah sie wieder prima durch die Brille - dank dieses kleinbisschen größerer Nähe, die Rettung bei Kurzsichtigkeit.

Christines Indikator für Älterwerden jedoch ist Weitsichtigkeit und so entspann sich zwischen den beiden Damen am Klavier ein zunächst unbewusster Konflikt: Zog Christines Lehrerin die Noten jenes kleine bisschen zu sich heran, schob Christine beim nächsten Tasteneinsatz die Noten um dasselbe klein bisschen wieder zurück.

Das ging einige hundert Male, bis den aufgrund ihrer Reife Sehbeeinträchtigten und zudem ja von der Musik besessenen und abgelenkten Damen der Konflikt überhaupt erst auffiel. Da die Lehrerin ihren Konfliktlösungsbeitrag schon geleistet hatte (Brille gegen Kurzsichtigkeit) war Christine dran. Sie trägt jetzt stolz ihre Brille. Gegen Weitsichtigkeit.

Die eigentliche Erkenntnis dieser Geschichte dieser beiden Brillenschlangen ist jedoch eher philosophischer, also übergreifender Natur. Denn wenn zwei Menschen eine unterschiedliche Schwäche oder Stärke haben, dann ist das, was für den einen unerträgliche Distanz ist, für den anderen unerträgliche Nähe. Und dies, obwohl das Problem selbst - dasselbe ist. Bei Dioptryn-Stärken ist das gemeinsame und gleichzeitig unterschiedlich wahrgenommene Problem sogar ganz genau, also objektiv messbar.

Die eigentlich tragische Erkenntnis also: Wir können leider auch unsere anderen Probleme mit Nähe und Distanz nicht derart elegant und kompromisshaft lösen, wie Christine und ihre Klavierpädagogin das ihrige: Mittels Brillen, also instrumenteller Hilfen wie hier einer Seh-Prothese oder anderer Prothesen.

Es sei denn, man hievt auch die Konfliktlösung der beiden Damen auf allgemein philosophische Ebene und stellt fest: Das gemeinsame Fernziel ist es, was eigentlich verbindet. Bei den beiden ist es die Musik, die die Problemlage überwindet. Bei anderen ist es was anderes. In jedem Fall helfen (manche) Fernziele über die Unbill der profanen sozialen Probleme hinweg.

Gute Ferienplanungen gehören dazu, schöne Urlaubstage, große Schulferien - sie bringen den großen Überblick, der unsere manchmal schmerzhaft unterschiedlichen Sichtweisen sanft in die Ferne erhöht. Manchmal ist Weitsicht heilsam.

11. Juli 2000